Unterricht in Utopie
Gestern Abend habe ich im Forum einen Film gesehen, der mit Sicherheit zu den aktuellsten im diesjährigen Programm zu zählen ist: „Nos défaites“ von Jean-Gabriel Périot wurde im Mai und Juni 2018 gedreht, im Dezember wurde dann aber noch eine längere Passage hinzugefügt, und damit gibt es nun aus Frankreich einen Debattenbeitrag, bei dem man fast noch die Druckerschwärze riechen kann. Das ist nun zwar ein Bild, das gar nicht in die digitale Welt passt, das aber daran erinnert, dass das Kino auch einmal so etwas wie ein Flugblattmedium sein sollte – also das Gegenteil des schwerfälligen Apparats, den man normalerweise damit verbindet.
Périot hat in der Pariser Vorstadt Ivry-sur-Seine mit einer Schulklasse gearbeitet, die sich für das Wahlfach Kino zusammengefunden hatte. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren zum Zeitpunkt der Dreharbeiten um die 16 Jahre alt. Sie nahmen sich gemeinsam Filme aus der Zeit um 1968 vor, also just aus der Zeit, in der das Kino als revolutionäres Medium seine langwierigen Produktionsrhythmen aufgeben sollte, und schnelle Interventionen in die Arbeitskämpfe versuchte. Selbst in dieser intensiven Phase der Agitation vergaßen die französischen Filmemacher aber nicht auf die Bedeutung von Kultur. So stammt aus dieser Zeit auch eine Szene, in der ein Mädchen einem Jungen ein Gedicht von Heine vorliest, das einen Horizont für ein neues Zeitalter öffnet.
Heine heißt in Frankreich „Ein“, man muss sich davor eines dieser Häkchen als Lautzeichen denken, über das wir uns im Kindesalter beim Asterix-Lesen abgehaut haben – oder eben abgeaut! Périot dreht mit den jungen Leuten also Revolutionsfilme nach, dazwischen stellt er Fragen: „Ce quoi le politique pour toi?“ „Was ist eine Klasse?“ „Was ist eine Gewerkschaft?“ Die Antworten sind enorm interessant, denn man sieht in diesem Moment politischen Subjekten dabei zu, wie sie sich konstituieren. Eines der Mädchen wirkt anfangs ein wenig unbedarft, entwickelt dann aber einen Begriff von Politik, der so überraschend und auch systematisch ist, dass man aus dem Staunen kaum mehr herauskommt.
„Nos défaites“ hat dann eben im letzten Moment noch einen Nachspann bekommen, der sich mit den Protesten in Frankreich beschäftigt. Die „Gelben Westen“ forderten Macron heraus, die Proteste der „élèves“ in den „lycées“ wurden daneben meist nur beiläufig erwähnt. Die Stimme der Heranwachsenden zählt eben nicht so richtig. In „Nos défaites“ zählt sie.
Ich hatte kurz vor Beginn des Films die Pressemitteilung über Zhang Yimou gelesen, und dachte dann zwischendurch mehrfach daran, wie „Nos défaites“ sich im Wettbewerb der Berlinale machen würde. Eine „wild card“ im besten Sinn, eine Alternative zu dem doch recht gleichförmigen Ablauf aus mittelmäßigen Qualitätskinobemühungen, die in Berlin dominieren. Es wäre ein utopischer Akzent, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die Jugendlichen in dem Film sich für das Kino auch in praktischer Hinsicht interessieren: manche von ihnen würden gern einmal in diesem Bereich arbeiten. Das Schlimmste, was man ihnen vor dem Hintergrund ihrer derzeitigen Träume prophezeien könnte, wäre im Grunde, dass sie in dem Kino Karriere machen, das derzeit in Europa dominiert. Da müsste man dann einer neuen Generation die Revolutionsfrage stellen.
Bert Rebhandl
Faz
12. Februar 2019